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Izabella krallte sich in Thomas' Arm fest. "Was sollen wir tun, wenn der Zug kippt?" fragte sie ihn ängstlich. Thomas versuchte sie zu beruhigen "Das wird hoffentlich so schnell nicht geschehen. Komm, lass uns nachsehen, was im Speisewagen passiert ist". Gesagt, getan. Vorsichtig öffneten sie die Tür des Abteils und traten ein. Auf den ersten Blick konnten sie nichts außergewöhnliches entdecken - abgesehen von dem Chaos von umgeworfenen Tischen und Stühlen, zerbrochenem Geschirr und ausgelaufenen Kaffeekannen, die das erste Beben des Zuges verursacht hatte.
"Mh, ich frage mich, woher dieses Knarren herstammt" meinte Izabella zu Thomas. "Klingt so, als würde sich der Wagen aus der Kupplung lösen ..." "Aber dann kippt er doch um" rief Izabella entsetzt aus. Plötztlich wurde das Knarren lauter und die Wände bebten erneut, gedämpfte Schreie waren zu vernehmen. "Schnell, wir müssen hier raus!" versuchte Thomas Izabella aus dem Wagen zu treiben. "Aber was ist mit den Passagieren, die noch in den Schlafwaggons dahinter sind?" "Wenn der Wagen abrutscht, können wir jetzt nichts für sie tun, bring dich erst in Sicherheit, wir kümmern uns dann später um eventuelle Verletzte" sagte Thomas und schob die zitternde Izabella aus dem Speisewagen heraus. Kaum hatten sie den anderen Wagen betreten, rumpelte es und ächzte laut, der Speisewagen sowie die anhängenden Schlafwaggons kippte zur Seite und begannen das Schotterbett hinunter zu rutschen. Innerhalb weniger Sekunden hörte man Glas klirren, Stahl sich verbiegen und verzweifelte Schreie lauter werden. Kurz danach folgte ein unüberhörbarer Aufprall auf die in der Nähe der Gleise stehenden Bäume, die ächzend unter dem Gewicht der Wagen nachgaben. Dabei gab es einen Kurzschluss, sodass im ganzen Zug der Strom ausfiel. In Anbetracht der fortgeschrittenen Tageszeit war dies ein weiteres Übel, da die Dämmerung schon einzusetzen begann.
Nachdem Thomas und Izabella eiligst den umkippenden Speisewagen verlassen hatten, steckten er, Ludwig und Berthold die Köpfe zusammen und berieten, wie sie mit der Dunkelheit umgehen konnten, schließlich lagen in den umgestürzten Waggons vielleicht noch weitere Passagiere, die verletzt waren und Hilfe benötigten. Izabella kümmerte sich in der Zwischenzeit liebevoll um Klara, der der weitere Zwischenfall zuviel wurde und die ganz verstört vor sich hin schluchzte. "Wir brauchen zunächst einmal Licht, das ist klar" meinte Thomas. "Taschenlampen hat hier von uns wahrscheinlich keiner dabei, oder?" fragte Berthold hoffnungsvoll in die Runde. "Nein, sowas gehört eher zu wilden Zeltlagern von Naturburschen und heranwachsenden Jungvolk, aber da wir ja einen gepflegten Urlaub im Hotel verbringen wollten, haben wir sowas natürlich nicht dabei" holte Ludwig lang aus. "Dumm auch, das mein Pfeifenkästchen im Gepäckwaggon liegt, sonst hätten wir wenigstens mit den Zündhölzern etwas Licht machen können" setzte er noch nachdenklich hinzu. "Raucht sonst jemand von euch und hat ein Feuerzeug dabei?" fragte Izabella die Männer. "Nein" kam von Thomas und Berhold wie aus einem Munde. Tja, was sollte man jetzt tun?
Einen Wagen weiter stand Lisa am offenen Fenster und steckte sich gerade eine Marlboro Lights an. Dass diese Fahrt so schlimm werden würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Während sie einen tiefen Zug nahm, ärgerte sie sich erneut darüber, dass es mit ihrer Ausbildung zur Stewardess nicht funktioniert hatte. Warum hatte sie auch keine reichen Eltern, die ihr hätten diese bezahlen können? Dann wäre dieser Alptraum bestimmt nicht passiert. Schließlich stürzen weniger Flugzeuge ab als Züge entgleisen - das hatte sie zumindest mal aus einer Statistik entnommen und vertraute auch darauf. Sie nahm noch einen Zug. Am besten schnapp ich mir einen reichen, gutaussehenden Kerl und dann fang ich nochmal von vorne an, beschloß sie. So einer wie der Thomas, der ist charmant, intelligent und stammt von seiner Kleidung her aus guten Verhältnissen - das wär doch was. Sie seufzte laut. "Ich muss jetzt doch mal schauen, ob ich irgendwo Licht herkriegen kann" murmelte sie vor sich hin.
Er hatte ihr Murmeln gehört. Auch wenn es jetzt dunkel war, konnte sie sich nicht länger vor ihm verstecken. Er schnupperte den Rauch, der durch den leichten Wind vom offenstehenden Fenster zu ihm rübergeweht wurde. Sie hatte sich wohl erst vor kurzem das Rauchen angewöhnt. Das kam ihm nur zugute, denn er konnte jetzt auch eine Zigarette gebrauchen. Vielleicht würde es den leichten Schmerz seiner Wunde betäuben. Außerdem konnte er sich ihr dann doch noch zu erkennen geben. Langsam ging er auf Lisa zu.
Lisa wollte gerade gehen, als er sie ansprach. "Hallo" sagte er mit dunkler voller Stimme "ich habe dich eben rauchen gesehen, und wollte dich fragen, ob ich mir eine Zigarette von dir schnorren könnte. Dieses ganze Drunter und Drüber hier hat mich ziemlich nervös gemacht und ich würde mich gerne beruhigen". "Oh, ja klar" sagte Lisa, die noch ein wenig verschreckt war, da man sie im Dunkeln angesprochen und zudem aus ihren Gedanken gerissen hatte. Sie kramte das Päckchen aus ihrer Tasche und gab ihm eine Kippe. Danach nahm sie auch noch eine zwischen die Lippen. "Ich rauche mit Ihnen, kann ja nicht schaden, bin selbst noch ein wenig aufgeregt" sagte sie und gab dem Fremden Feuer. Trotz des kurzen Feuerscheins konnte sie seine Gesichtszüge nicht erkennen. Macht nichts, dachte sie. Vielleicht geht er ja danach mit mir nach einer geeigneten Lichtquelle suchen.
Er hatte beim Entzünden der Zigarette einen kurzen Blick in ihr Gesicht geworfen. Oh ja, sie war immer noch so hübsch wie damals, bevor sie ihn verlassen hatte. Kurz verkrampfte er sich bei diesem bösen Gedanken, Gedanken an Einsamkeit, den verlorenen Job, die Verwahrlosung, sein weggeschmissenes Leben. Sie würde wieder gutmachen müssen, was sie ihm dadurch angetan hatte. Oh ja, das musste sie auf jeden Fall.
Während Lisa gerade für sich und den Fremden die Zigaretten anzündete, hatte Izabella den Rauch gewittert. "Da raucht jemand" rief sie erfreut. "Dann haben wir ja doch noch ein Feuerzeug" sagte Berthold. "Das trifft sich gut, denn jetzt ist es wirklich stockduster da draußen" meinte Ludwig und stierte aus dem Fenster ins Schwarze. "Hatten die nicht gesagt, dass Rettungsteams unterwegs sind?" jammerte Klara leise vor sich hin. "Die hätten doch schon längst eintreffen müssen!" "Beruhig dich doch Liebes" meinte Ludwig gelassen. "Die werden schon noch auftauchen. Solange brauchen wir aber erst einmal Licht, damit's hier nicht ganz so gruselig ist". Izabella raffte sich auf und fasste nach Thomas' Hand. "Komm, wir gehen das Feuerzeug suchen." Berthold, der nicht untätig rumsitzen wollte, rief "Ich schließ mich euch an". Kurz danach verließen die drei das Abteil und gingen immer der Nase nach auf Lisa zu.
Irgendwie war Lisa auf einmal mulmig zumute. Die Dunkelheit und die Anwesenheit eines Fremden waren ihr in der eh schon angespannten Lage nicht gerade angenehm. Kopf hoch, dachte sie sich, gleich gehen wir ja nach Licht suchen, sobald er ausgeraucht hat, frag ich ihn einfach.
Er genoß es neben ihr zu stehen. Er nahm trotz des Rauchs der beiden Zigaretten den leichten, blumigen Geruch ihres Parfums war. Er erinnerte sich an so manches Mal, als er ihr Blumen mitgebracht hatte und auch daran, wie er ihr Schlafzimmer mit Blütenblättern geschmückt hatte und wie sie ihn danach verführt hatte. Ein wohliges Kribbeln duchfloß ihn kurz. Doch sie hatte ihn verlassen! Im Stich gelassen, weggeschmissen wie ein beschmutztes Taschentuch, einfach so in den Dreck, in sein Chaos, in diese Ohnmacht! Er musste sie noch einmal haben, sie ihm unterwerfen, sie hilflos dastehen, betteln lassen, ihr zeigen, was es heisst, benutzt zu werden. Lächelnd tastete er nach dem Messer in seiner Hosentasche. Ein Gutes hat die Dunkelheit auf jeden Fall: der ganze Zug ist voller Menschen und keiner wird mitkriegen, wie ich es dem Miststück heimzahlen werde. Langsam drückte er seine Zigarette aus. Dann rutschte er in Lisas Richtung auf.
Lisa wollte gerade ihre Kippe ausdrücken und ihn ansprechen, als er sie am Arm packte. "Was soll das?" rief sie empört. "Ich werde dir schon zeigen was das soll, Schätzchen". Lisa bekam es mit der Angst zu tun, versuchte, den Arm abzuschütteln. Ganz ruhig bleiben, erst schreien wenn's wirklich nötig ist, dachte sie sich. Sie streckte die Hand aus und griff in etwas Feuchtes, Klebriges. Blut! Das Gespenst von vorhin, der Verletzte der sich nicht behandeln lassen wollte! "Was wollen Sie von mir?" fragte sie zitternd.
Thomas sah das Glimmen von Lisa zuerst. "Hey Lisa" rief er erfreut "was wir von dir wollen? Du hast da etwas, was wir unbedingt benötigen." In der Dunkelheit fiel der Fremde erst einmal nicht auf. Dieser aber zückte schnell sein Messer und legte Lisa die Hand auf den Mund, ließ sie das Messer an ihrem Hals spüren und flüsterte ihr ins Ohr:"Nur einen Mucks, Schätzchen, und du bist tot!" "Lisa, sprich doch mit uns, wir brauchen das Feuerzeug" sagte Thomas. Izabella drängte sich an ihn, irgend etwas in diesem Wagen war ihr nicht geheuer.
Er drehte den Kopf und nahm Izabellas Geruch wahr. Ihren unverkennbaren, leichten, frischen Geruch, den er so sehr an ihr liebte. Wie hatte er sich nur in die Irre führen lassen können von dieser wertlosen Kopie, die er gerade umklammert hielt! Und dann ging alles ganz schnell: Er stieß Lisa heftig zur Seite, so dass sie hart gegen das gegenüberliegende Fenster knallte und stöhnend zusammensank, fasste die völlig überraschte Izabella an der Hand und zog sie an sich. "Sie ist mein" rief er den verdutzten Umherstehenden zu "Wenn ihr mich anrühren wollt, werde ich sie töten". Izabella wusste gar nicht, wie ihr geschah. Was wollte dieser Fremde von ihr? Plötzlich fiel es ihr wieder ein, woher sie die Stimme kannte: Der Mann im Wald, der, der sie zu sich locken wollte! Ihr wurde ganz übel vor Angst. Was will er nur von mir?
Thomas und Berthold versuchten den Fremden zu beschwichtigen, auch wenn sie ihr Gegenüber nicht erkennen konnten. "Lassen Sie die Frau frei" sagte Thomas mit ruhiger Stimme. Berthold versuchte es diplomatischer. "Sagen Sie uns, was Sie wollen und alles wird wieder ok". "Wir sind alte Bekannte und ich habe noch eine Rechnung mit ihr zu begleichen" erwiderte der Fremde. Er hatte sich, bevor er den Wagen betrat, gut eingeprägt, wo die Tür zum nächsten Abteil war. Langsam trat er rückwärts und zog Izabella mit sich. "Wenn ihr mich gehen lasst, wird ihr nichts passieren" - zumindest nicht hier, dachte er mit einem hämischen Grinsen auf den Lippen. "Das kannst du dir abhaken, Freundchen" rief Thomas, der ungefähr ausgemacht hatte, von wo die Stimme des Fremden herkam, und sich auf ihn zu bewegte. Gerade als er loshechten wollte, drehte sich der Fremde um und ritzte ihm mit dem Messer die Hand auf. "Ahhhhh" rief Thomas schmerzvoll und hielt sich die stark blutende Hand. Der Fremde nutzte den Moment zur Flucht, riss Izabella herum und rannte mit ihr auf die zum nächsten Wagen gelegene Tür zu.
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