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In fünf Minuten sollte der Zug abfahren. Izabella schaute den Bahnsteig entlang. Sie würde sehen können, wenn er doch noch kommen sollte. Einerseits hoffte sie, daß er noch zum Bahnhof käme, andererseits wollte sie ihn nicht mehr sehen. Da war es ganz gut, hier im Zugabteil zu sitzen und sich in gewisser Weise bei den Leuten, die sie nicht einmal kannte, geborgen zu fühlen. Die Frau ihr gegenüber erinnerte sie an ihre Kollegin: kurze blonde Haare, gepflegte Erscheinung, vielleicht ein wenig zu sehr darauf bedacht, elegant wirken zu wollen. Etwas weniger Schmuck und dezenteres Makeup hätten sie noch attraktiver gemacht.
Obwohl ich sie nicht kenne, sehe ich sie schon wie eine Konkurrentin, ertappte sich Izabella bei dem Gedanken, daß sie bis auf das Alter genau der Typ Frau war, mit dem sie Markus ertappt hatte. Ihre Kollegin und beste Freundin Nicole, mit der sie so viele Stunden in Boutiquen, Parfümerien, Schmuckgeschäften und Cafés zugebracht hatte! Bei der sie sich über die Höhen und Tiefen in ihrer Beziehung zu Markus ausgeweint und mit der sie kleine Strategien entwickelt hatte, wie sie Markus davon abbringen konnte, sich immer wieder für fremde Frauen zu interessieren. Nicole hatte seit über einem halben Jahr eine Affäre mit Markus und wußte dank ihrer Gespräche genau, was Markus für Wünsche und Vorlieben hatte oder wenn es mal wieder Streit gegeben hatte. Da war es ein Leichtes, ihn zu verführen, zumal sie genau wußte, daß er auf blonde Frauen stand.
Sie hatte sich oft gefragt, warum Markus sich überhaupt für sie interessiert hatte, damals am Lago Maggiore, als sie sich in dem Café am Hafen von Cannobio zum ersten Mal trafen. Oft genug ließ er in den letzten drei Jahren durchblicken, daß er blonde Frauen äußerst attraktiv fand und daß er es schön finden würde, wenn sie sich die Haare blond färben ließe. Und kürzer dürften sie auch sein. Aber sie hatte sich nie dafür entscheiden können, obwohl sie mehrmals schon einen Termin beim Friseur hatte. Nicole hatte sie immer wieder überredet, es nicht zu tun. Jetzt wußte sie, warum! Markus hatte ihr Komplimente gemacht bei jenem ersten Treffen in Cannobio, wie sehr er ihre Haare bewundere und ihre dunklen Augen. Sie fühlte sich geschmeichelt von seinen Worten.
Er war mit dem Rennrad unterwegs und wäre fast in das Café gefahren und über ihren Tisch gestürzt, weil ihn ein Auto, daß aus der Einfahrt neben dem Café kam, von der Straße gedrängt hatte. Sie wollte schon immer einen dieser bunt gekleideten Radfahrer kennenlernen, die sie bewunderte, wie sie bei Wind und Wetter, bei Regen und Hitze die steilen Straßen herauffuhren, an denen ihr alter Fiat teilweise schon immer beinahe stehen blieb. Jetzt hatte sie Gelegenheit dazu und war fasziniert über die Geschichten, die er erzählen konnte, von langen Trainingsfahrten in großer Hitze über die Alpenpässe mit rasanten Abfahrten, bei denen man trotz der Hitze wegen des Fahrtwindes fror. Er schwärmte davon, wie befriedigend es war, in den Bergen die Natur zu genießen, wenn man sich die Höhe selbst erkämpft hatte und nicht mit einem Auto auf den Paß gefahren war.
Sie hatten sich lange auf Italienisch unterhalten, bis sie feststellen mußten, daß sie beide aus Deutschland waren und besser Deutsch sprachen. Izabella hatte italienische Eltern und war in Deutschland aufgewachsen, während Markus als Sohn deutscher Eltern in Mailand groß geworden war. Während Izabella jetzt in Mailand studierte, war Markus nur während seines Urlaubs nach Italien gekommen, um in den Bergen Rad zu fahren. Sie hatten sich dann in Mailand verabredet und waren immer öfter zusammen ausgegangen. Als der Urlaub vorbei war und Markus zurück nach Deutschland mußte, hatten sie sich versprochen, sich möglichst bald wieder zu treffen. Eine Woche später war Markus dann wieder bei ihr in Mailand gewesen und hatte ihr erklärt, daß seine Firma ihn für ein Jahr nach Turin schicke, um dort zu arbeiten. So hatten sie sich kennengelernt und waren dann nach einem Jahr zusammen nach Deutschland gegangen. Und jetzt hatte er sie wegen Nicole verlassen.
Klara betrachtete die junge Frau, die ihr am Fenster gegenüber saß: Sie mochte wohl etwa Mitte zwanzig sein, hatte schulterlange kastanienbraune Haare, die rot schimmerten und braune Augen. Sie trug eine lange weite schwarze Hose (keine Jeans, wie sie positiv feststellte) und ein weites roséfarbenes T-Shirt, was nach Klaras Meinung nicht so ganz zu der Farbe ihrer Haare paßte. Dazu trug sie helle Pumps, denen man ansah, daß sie nicht gerade billig gewesen waren und mit Sicherheit aus einer der teuren Boutiquen abseits der großen Einkaufsstraßen stammten, die ihre Ware überwiegend aus Italien bezogen. Irgendwie sah die Frau aus, als ob sie recht überstürzt aufgebrochen war und nicht die Zeit gefunden hatte, ihre Kleidung mit Bedacht zu wählen. Ludwig hatte sich gleich neben sie gesetzt, als sie das Abteil betreten hatten. Das sah ihm mal wieder ähnlich: Er saß am liebsten am Fenster, aber hier hatte er sich ohne Zögern mit dem Mittelplatz begnügt und würde auch sicher bald ein Gespräch mit der neben ihm sitzenden Rothaarigen beginnen.
Der alte Charmeur! Klara war nicht eifersüchtig. In gewisser Weise war sie sogar stolz auf Ludwig. Er schaffte es immer wieder, alle Menschen, besonders die weiblichen, für sich einzunehemen. Dabei wurde er nie plump und aufdringlich, sondern wahrte eine gewisse Distanz und wußte auch immer die Grenzen zu erkennen. Sie nahm ihm die kleinen Flirts nie übel, obwohl sie gelegentlich die eifesüchtige Ehefrau spielte und ihm eine Szene machte. Aber genau wie sie, nahm er das nie ernst und sie lachten hinterher über die Angelegenheit.
Ludwig freute sich auf die Reise. Endlich würde er einmal wieder Zeit haben, um zu entspannen. Und die Reise begann jetzt schon angenehm: Er war mit der wundervollsten Frau verheiratet, die er kannte und er saß neben einer hübschen jungen Frau in einem Zugabteil, die so aussah, als ob sie etwas Aufmunterung gebrauchen konnte. Und im Aufmuntern war Ludwig Experte - zumindest bestätigten ihm das immer wieder seine zahlreichen Freunde und Geschäftspartner. Ludwig liebte es, in geselliger Runde der Mittelpunkt zu sein und dafür zu sorgen, daß sich alle wohl fühlten.
Große Familienfeiern, offizielle Empfänge oder Firmenjubiläen - überall war er der "Hahn im Korb" gewesen. Er war bekannt und beliebt in seiner Heimatstadt und gehörte bei vielen als Inhaber einer großen Konditorei zu den gern gesehenen Gästen. Doch jetzt hatte er sich zur Ruhe gesetzt und den Betrieb seinem Sohn übergebe, bevor es ihm so ergehen konnte, wie seinem Vater, der nach einem Herzinfarkt gestorben war, den er beim Vorbereiten einer großen Hochzeitstorte für die Tochter des Bürgermeisters erlitten hatte.
Der Mann gegenüber sah auch nicht sehr gesund aus: "Typischer Manager. Im Streß, Magengeschwür, rastlos ud unausgeglichen." Ludwig war froh, daß er diese Phase seines Leben hinter sich lassen würde, um mit Klara den wohverdienten Ruhestand zu genießen. Sein Sohn Gerd würde die Konditorei schon erfolgreich weiter führen. Da war er sich sicher.
Berthold war unruhig, aber voller freudiger Spannung. Einerseits machte er sich Sorgen, daß seine Frau etwas gemerkt haben könnte, andererseits freute er sich auf die Woche mit Susanna. Er arbeitet zwar jeden Tag mit ihr zusammen, aber sie mußten sich verhalten, wie normale Kollegen, was natürlich nicht immer leicht war, wenn man sich nach Feierabend treffen würde, um die Nacht miteinander zu verbringen.
Susanna war so ganz anders als seine Frau Franziska. Franziska, die "Kühle Blonde" wie sie in der Schule immer genannt wurde. Nicht nur, daß sie als einzige Tochter eines wohlhabenden Brauereibesitzers gewohnt war, immer im Mittelpunkt zu stehen und alles zu bekommen, was sie sich wünschte, sie schien auch unnahbar zu sein und alle Jungs der Schule, ja der gesamten Stadt für Trottel zu halten. Um so erstaunter war er, als sie seine Einladung zum Kinobesuch annahm. Er hätte nie daran geglaubt, daß sie ja sagen würde; die Einladung hatte er auch nur aussprechen müssen, weil er bei seinen Kumpels eine Wette verloren hatte. Als seinen Einsatz hatte er "Die Kühle Blonde ins Kino einladen" vorgeschlagen. Alle hatten sofort zugestimmt, weil sie der Meinung waren, er würde sich einen Korb holen und sie könnten alle über ihn lachen.
Doch es kam anders: Franziska verliebte sich in ihn und sie wurden ein Paar, heirateten später und er übernahm von seinem Schwiegervater die Brauerei. Nach ein paar Jahren Ehe stellten sie aber beide fest, daß sie nicht zueinander paßten, aber aus Rücksicht auf ihren Vater, der Berthold besonders mochte, blieben sie zusammen und arrangierten sich. Bis eines Tages eine neue PR-Assistentin in die Firma kam: Susanna. Sie fühlten sich von Anfang an zueinander hingezogen und bei einem Betriebsfest (welch ein Klischee, dachte Berthold) war es dann passiert.
Das war jetzt ein halbes Jahr her und seitdem trafen sie sich, wann immer es ging in Susannas Appartement. Ausgehen konnten sie nicht, da Berthold überall bekannt war und er ihr Verhältnis wegen Franziska nicht öffentlich machen wollte. So erfand er gelegentlich Seminare oder verband Geschäftsreisen damit, sich mit Susanna für ein paar Tage relativ ungezwungen in einer Umgebung zu bewegen, in der ihn niemand kannte. Jetzt war wieder eine dieser Gelegenheiten, bei denen sie sich eine gemeinsame Woche gönnen wollten. Er freute sich auf Susanna, die genau der gleiche Typ war, wie die junge Frau im Abteil ihm schräg gegenüber am Fenster.
Izabella schreckte aus ihren Gedanken - der Türen knallten zu und eine Ansage verkündete die Abfahrt ihres Zuges. Markus war nicht gekommen. Sie war traurig darüber, aber auch erleichtert. Es war ein Schlußstrich und sie würde versuchen, bei ihrer Schwester etwas Abstand zu gewinnen.
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