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Spur Drei
Er und Sie
von Semper
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Das Aufwachen war immer ein langsamer, unangenehmer Prozess. Halb geweckt durch den Lärm der Straße driftete er zwischen Traum und Wachen. Die beklemmende Atmosphäre des letzten Traumes vermischte sich mit dem Zischen der Reifen auf nassem Asphalt; die langsam sickernde Erleichterung, dem Traum entkommen zu sein wurde gedämpft durch den schmerzenden Rücken von der durchhängenden Matratze. Obwohl alleine im Doppelbett, lag er an den rechten Rand gedrängt, suchte unbewusst Abstand vom Rest des Bettes, das bedeckt war mit halb gelesenen Büchern und Zeitungen, Pizzaschachteln mit hartgewordenen Resten, leeren Chipstüten, Coladosen, Staub, Krümeln und schmutziger Wäsche. Manchmal überkam ihn Selbstverachtung wegen seiner Verwahrlosung, aber er brachte selten die Energie auf, mehr als ein paar Minuten auf die Reinigung seiner Wohnung zu verwenden. Je mehr die Unordnung zunahm, um so sinnloser schien es ihm, überhaupt dagegen anzukämpfen.

Langsam wich der Schlaf und seine Gedanken beschäftigten sich mit dem anbrechenden Tag. Heute würde er es noch einmal am Bahnhof versuchen. Immerhin war es dort gewesen, dass er sie das erste mal gesehen hatte.

Das war vor fünf Monaten gewesen, gerade acht Wochen nachdem sie ihn verlassen hatte. Seltsam, an die Zeit vor ihrer Trennung konnte er sich kaum erinnern. Dann der Streit, die Vorwürfe. Er vermied es, daran zu denken.

Die ersten Wochen nach der Trennung waren die schwersten gewesen. Schwankend zwischen Sehnsucht, Wut und Trauer schienen ihm die Tätigkeiten des normalen Lebens sinnlos. Der Einschnitt kam an dem Tag als er seinen Job verlor. Es war der selbe Tag als er sie im Bahnhof sah. Plötzlich war alles klar. Der Trott des täglichen Lebens war egal. Sollten die anderen doch denken, was sie wollten. Er hatte eine Aufgabe.

Der eine Blick auf sie am Bahnhof war alles, was er an jenem Tag von ihr sah. Sie stieg auf Bahnsteig 5 in einen Zug und war weg. Erschüttert von dem Zufall war ihm nicht eingefallen nachzusehen, wohin der Zug fuhr. Als sich am nächsten Morgen seine Gedanken gelichtet hatten, holte er das nach. Er erinnerte sich noch ungefähr an die Zeit. Von Bahnsteig 5 fuhr um diese Zeit ein Nahverkehrszug. Um diese Uhrzeit zwar noch nicht gefüllt mit Pendlern, aber die Chance war gross, dass sie in der Nähe lebte.

Und so begann er mit der Suche nach ihr. Er hatte keine Ahnung, was er zu ihr sagen wollte, wenn er sie fand. Aber irgendwie musste er ihr klar machen, was sie ihm angetan hatte. Wie sein Leben zerbrochen war, seine Wohnung verwahrloste, und jetzt, wo er den Job verloren hatte, sein Bankkonto langsam aber ständig leerer wurde.

Mit dem ersten Licht des Morgens machte er sich auf zum Bahnhof. Er ging früh morgens hin, denn er konnte nicht sicher sein, ob sie regelmässig zur selben Zeit fuhr. Während er die Bahnsteige auf und ab ging, versuchte er sich die Szene vom vergangenen Tag in Erinnerung zu rufen. Dunkle Haare, rote Jacke und Jeans. Oder war die Jacke gelb? Die Erinnerung begann zu schwinden. Aber auch wenn er sie nur von hinten gesehen hatte, er war sich sicher, dass sie es war: Ihre Haltung, der Blick halb nach hinten als sie einstieg, als ob sie sicher sein wollte, dass ihr niemand folgte.

Der Tag verging langsam. Er wanderte langsam von einem Bahnsteig zum nächsten. Stellte sich zwischen die Wartenden, beobachtete die ein- und aussteigenden Passagiere. Bewegte sich mit den Ausgestiegenen in die Bahnhofshalle, stand mit einem Kaffee in der Hand am Kiosk, wanderte wieder über die Bahnsteige. Am Ende des Tages taten ihm die Füsse weh, aber er hatte sie nicht gesehen.

Die nächsten zwei Tage vergingen genauso. Am Ende des dritten Tages entschloss er sich, dem Bahnhof erstmal fernzubleiben. Auch wenn er sich Mühe gab, in der Menge unterzutauchen, irgendwann würde er jemandem auffallen.

Am nächsten Tag fing er an, die U-Bahnen abzusuchen. Eine Woche später wurde er fündig. Gegen zwei Uhr mittags kam er auf den Bahnsteig, die frisch gelöste Fahrkarte in der Hand. Mitten in der Menge stand sie und wartete auf die Bahn. Unbewusst blieb er stehen, wurde von hinten angerempelt. Obwohl er seit Tagen auf der Suche nach ihr war, kam die Erfahrung unerwartet, ihr plötzlich gegenüber zu stehen. Sie blickte in seine Richtung, schien ihn aber nicht zu bemerken. Dunkle Haare, diesmal in schwarzer Hose und weisser Bluse. Die vertraute Bewegung, mit der sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich.

Langsam setzte er sich wieder in Bewegung und ging auf sie zu. In seinem Kopf rasten die Gedanken. Sollte er sie ansprechen? Was sollte er ihr sagen? Konnte er ihr klarmachen, was er durchgemacht hatte? Konnte sie das überhaupt wieder gut machen? Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht? Er würde ihr schon zeigen, wer hier wen verlassen kann!

Sie drehte sich um zum einfahrenden Zug als er näher kam.

Am nächsten Tag las er den Bericht in der Zeitung: "Junge Frau im Gedränge vor einfahrenden Zug gefallen". Ein tragischer Unfall.

Zwei Tage später ging er wieder auf die Suche.

Es dauerte drei Wochen bis er sie wieder sah. Es war schon dunkel, er war auf dem Weg nach Hause. Sie stand an einer Ampel. Blond, mit Jeans und engem T-Shirt. Die Haarfarbe war anders, und sie schien dünner zu sein. Aber er erkannte die Bewegung, wie sie ungeduldig auf ihre Uhr schaute, während sie auf Grün wartete.

Die Ampel sprang um als er noch ein paar Meter entfernt war. nauffällig folgte er ihr. Er wollte in der Öffentlichkeit keine Szene machen. Über mehrere Blocks hielt er vorsichtig Abstand zu ihr. Als sie auf eine Brücke zugingen beschleunigte er seinen Schritt.

Diesmal stand es erst drei Tage später in der Zeitung. Mehrere Kilometer flussabwärts war die Leiche einer Frau angespült worden. Es wurde vermutet, dass es sich um jene Frau handele, die seit dem Wochenende vermisst wurde. Die Polizei prüfe, ob es sich um einen Unfall oder Selbstmord handele. Unfall! Unfall ist noch viel zu gut für diese Schlampe!

Als er am nächsten Tag wieder auf Suche ging, hatte er ein Messer bei sich.

In den nächsten vier Monaten fand er sie noch drei mal. Einmal ging sie mit einem kleinen Hund spazieren. Er war erstaunt, sie hatte niemals den Wunsch nach einem Hund geäussert. Die Haare waren auch wieder anders, aber er erkannte sie an ihrem Schritt. Das nächste Mal erkannte er sie in einem Geschäft und folgte ihr nach Hause. Dann lange Zeit nichts, bis er sie in einem Park sah. Sie hielt ein Handy an ihr linkes Ohr, tief ins Gespräch vertieft. Diesmal wirkte sie jünger, pummeliger. Aber die Stimme war unverkennbar. Diese Stimme würde er immer wiedererkennen. Sie merkte nicht, wie er ihr langsam folgte.

Aber während all dieser Zeit ging ihm die Szene am Bahnhof nicht aus dem Sinn. Das erste mal, als er sie wiedergesehen hatte. So deutlich wie dort hatte er sie die ganze Zeit nicht wiedererkannt.

Heute würde er es noch mal am Bahnhof versuchen.

Diesmal war er nicht überrascht, als er sie sah. Er war sich sicher gewesen, dass er sie hier finden würde. Er ging am Bahnsteig an einem wartenden Zug entlang, als er sie durch ein Fenster sah. Schlank, kastanienrote Haare. Sie beugte sich zum Fenster und sah den Bahnsteig hinunter, als würde sie auf jemanden warten. Ihn schien sie zu übersehen, obwohl ihr Blick deutlich über ihn hinwegschweifte. Unschlüssig zögerte er. Er war nicht darauf vorbereitet, eine Zugreise anzutreten. Aber was sollte er tun? Sein Blick ging zur Anzeigetafel. Noch 3 Minuten. Keine Zeit mehr, noch eine Fahrkarte zu kaufen. Er ging einen Wagen weiter und stieg ein.

Er wartete im Durchgang zwischen zwei Wagen, bereit, wieder auf den Bahnsteig zu springen, sollte ein Schaffner auftauchen. Ein paar Fahrgäste drängten sich an ihm vorbei. Kurze Zeit später ertönte der Pfiff vom Ende des Zuges, die Türen schlossen sich und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Er ging den Gang hinunter in die Richtung des Abteils, in dem er sie gesehen hatte. Er sah sie, als er schon fast am Abteil vorbei war. Sie blickte aus dem Fenster und drückte ihren Kopf an die Glasscheibe. Sie sass mit drei anderen Personen im Abteil, einem älteren Ehepaar und einem weiteren Reisenden, offenbar ein Geschäftsmann. Er ging weiter zum Ende des Wagens, drehte um, und ging zurück in Richtung des Abteils. In diesem Moment kam ihm ein Schaffner entgegen. Während er noch überlegte, wie er um den Kauf einer Fahrkarte herumkäme, ging der Schaffner zusammen mit einem weiteren Fahrgast in das Abteil, in dem sie sass. Er nutzte die Gelegenheit, ging am Abteil vorbei, ohne dass der Schaffner ihn sah, weiter zum anderen Ende des Wagens.

Jetzt waren ihm zu viele Personen in dem Abteil. Er stellte sich in den Gang an ein Fenster und wartete. Irgendwann würde sie schon rauskommen.

Ein paar Minuten später öffnete sich die Tür zum Abteil. Sie kam mit dem zuletzt hinzugekommenen Fahrgast heraus und ging auf ihn zu. Er verspürte einen Anflug von Panik. Würde sie ihn erkennen? Hoffentlich würde sie ihn erkennen. Sie musste ihn erkennen, schliesslich hatte er sie auch erkannt. Nein, sie durfte ihn nicht erkennen. Noch nicht. Hier waren zu viele Leute. Er wollte unbeobachtet sein, wenn er sich zu erkennen gab. Er drehte sich zum Fenster und spürte wie die beiden an ihm vorbeigingen. Mit ein paar Metern Abstand folgte er ihnen zum Zugrestaurant.

An der Tür zum Restaurantwagen warteten die beiden. Anscheinend war kein Tisch frei. Er beobachtete wie ihr Begleiter sich eine Zigarette drehte und dann ihr den Tabak anbot. Sie lehnte ab. Er wusste, das sie das tun würde. Sie hatte nie geraucht.

Wenig später wurde ein Tisch frei, und die beiden setzten sich. Er stellte sich in die Nähe der Tür, als ob er auch auf einen Tisch wartete. Die beiden schienen sich zu unterhalten. Hören konnte er aus dieser Entfernung nichts. Es wurde ein weiterer Tisch frei. Er wandte sich ab, als ob er das Interesse verloren hätte, und überliess den Tisch zwei Geschäftsreisenden.

Er stellte sich wieder an die Tür und beobachtete. Die beiden schienen sich gut zu verstehen. Plötzlich sah er, wie sie die Hand ihres Begleiters nahm. Ein plötzlicher Schwall von Eifersucht liess ihn in den Knien zittern. Wie konnte sie ihm das antun! Direkt unter seinen Augen! Hatte sie gar keinen Anstand mehr im Leib?

Er konnte sich nicht länger zurückhalten. Mit der rechten Hand holte er unauffällig sein Klappmesser aus der Innentasche seiner Jacke. Die Hand noch in der Jacke öffnete er mit dem Daumen das Messer. Mit der linken Hand schob er die Glastür zum Restaurant auf. Mit vorsichtig kontrolliertem Schritt ging er den Gang zwischen den Tischen hinunter.

Das plötzliche Kreischen der Zugbremsen überraschte ihn. Der Zug kam plötzlich, ruckend, zum stehen. Er stolperte, die rechte Hand immer noch unter der Jacke, schlug lang hin. Ein stechender Schmerz im linken Oberarm. Rings um ihn her klirrten Gläser und Teller, die von den Tischen rutschten. Vorsichtig stand er auf, darauf bedacht, das Messer bedeckt zu halten. Es lief warm an seinem linken Arm herunter. Er lief schwankend bis zur Toilette und schloss sich ein.

Izabella wurde durch die Notbremsung jäh in die Wirklichkeit zurückgerufen. Sie liess Thomas Hand los, um den Aschenbecher aufzufangen, der vom Tisch zu rutschen drohte. Neben ihr im Gang fiel ein Mann hin. Als er aufstand, hatte er die rechte Hand unter der Jacke, und am Ellenbogen seiner Jacke bildete sich ein roter Fleck, der langsam grösser wurde. Sie drehte sich zu Thomas. "Autsch. Ich glaube, da hat sich jemand verletzt. Meinst Du, die haben Verbandszeug im Zug?" Sie blickte sich wieder um. Der Verletzte war nirgendwo zu sehen.

Langsam legte sich die Aufregung im Wagen. Nachdem der Zug ein paar Minuten gestanden hatte, entschuldigte sich der Zugführer über die Lautsprecheranlage für den Zwischenfall. Ein Signal sei durch einen technischen Fehler auf rot gesprungen. In wenigen Minuten würde es weitergehen.

Izabella drehte sich im Stuhl um. Sie war sich sicher, dass sich der Mann verletzt hatte, der neben ihr gestürzt war. Sie sah, wie sich die Tür zur Toilette öffnete. Sie erkannte den Verletzten wieder. Er sah ziemlich blass aus und wirkte unsicher auf den Beinen. "Da ist er. Ich frag mal, ob wir ihm helfen können." Sie sprang auf und folgte dem Mann den Gang hinunter.

Thomas war etwas überrumpelt von der Entwicklung. Er wollte nicht einfach weggehen, schliesslich hatten sie ihr Essen noch nicht bezahlt. Andererseits wollte er auf jeden Fall bei Izabella bleiben. Er zögerte etwas und folgte ihr dann.

Das ihm das passieren musste! Ins eigene Messer gefallen! Ohne sie wäre das alles nicht passiert. Er zwang sich zur Ruhe und untersuchte den Schnitt an seinem Oberarm. Obwohl die Wunde ziemlich blutete war sie doch nur oberflächlich. Er bedeckte die Wunde mit einem Tempotuch, legte die restliche Tempo-Packung als Druckpolster drauf und trennte ein Stück Futter als Verband aus seiner Jacke. Das musste erst mal reichen.

Der Zug stand noch, als er die Toilette verliess. Er blicke sich um. Sie sah zu ihm hinüber, erhob sich und ging auf ihn zu. Hatte sie ihn erkannt? Vielleicht hatte er doch noch eine Chance. Er brauchte einen Ort mit etwas mehr Ruhe. Er ging ein paar Schritte den Gang hinunter, blickte sich um. Sie folgte ihm.

Als Izabella sich dem Verletzten näherte, ging er weiter den Gang hinunter. Er verschwand nach rechts in Richtung Tür. Als sie die Tür erreichte stellte sie fest, das diese offen stand. In der Pneumatik-Entriegelung steckte ein Vierkantschlüssel. Hatte der Schaffner die Tür geöffnet, um draussen nach dem Rechten zu sehen? Unsicher blieb sie in der Öffnung stehen und blickte nach draussen. Ein paar Meter weiter, unterhalb des Bahndamms stand der Verletzte an einen Strommast gelehnt. Er blickte sie an, schien ihr etwas sagen zu wollen. Sie beugte sich vor, sah rechts und links am Zug entlang. Niemand war zu sehen, bis auf den einen oder anderen Kopf, der sich neugierig aus dem Fenster streckte.

Der Verletzte machte ihr Zeichen, auszusteigen und zu ihm zu kommen. Sie zögerte noch ein wenig, unsicher ob sie den Zug verlassen sollte. Sie blickte sich nach einem Schaffner um. In diesem Augenblick schloss sich die Tür, und der Zug setzte sich langsam in Bewegung.

Er stand fassunglos am Bahndamm und sah dem kleiner werdenden Zug hinterher.

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8.2.2006